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Matthias Zeindler: Schönheit – und die Christologie? [09.03.2021]


Endlich stellt ein Theologe diese Frage: Warum sind unsere Städte so hässlich? Die Ästhetik des Alltags gehört gewöhnlich nicht in den Kanon theologischer Fragen. Allenfalls werden Fragen der Kunst im Zusammenhang mit kirchlicher Architektur diskutiert. Aber sonst? Wo wird in den Kirchen, in der theologischen Ethik eine Debatte über die ästhetische Beschaffenheit unserer Umgebung geführt? Obwohl doch eigentlich die Welt mit ihren Oberflächen, Farben, Lauten und Ordnungen mehr Anlass für Schönheit und Hässlichkeit als für Wahrheit und Unwahrheit geben könnte.


Theologische Ethik dreht sich heute um Fragen der Gerechtigkeit, des Friedens, um bioethische Problemstellungen oder um die Klima- oder die Migrationskrise. Alles Fragen, deren Legitimität wie deren Dringlichkeit niemand bestreitet. Das Feld des Ästhetischen bleibt daneben ethisch weitgehend unbestellt. Obwohl die schöne oder hässliche, ästhetisch interessante oder langweilige, öde oder bewegte Gestaltung der natürlichen und kulturellen Umgebung das Wohlergehen von Menschen nicht weniger nachhaltig prägt. Die Hässlichkeit unserer Städte wächst nicht zuletzt deshalb, weil sie sich im ethisch toten Winkel abspielt.


Dabei hat die Theologie bei dieser ästhetischen Abstinenz mindestens ihre wichtigste Instanz, die Bibel, nicht auf ihrer Seite. Um nur diesen Beleg zu bringen: Die biblische story wird gerahmt von einer «ästhetischen Klammer». Die Schöpfung, die Gott laut Genesis 1 erschafft, ist nicht nur ein Ort, wo alle Kreaturen gut leben können, sie ist in ihrer sinnvollen Ordnung auch im höchsten Sinne schön – wenn der Herr am Abend des sechsten Schöpfungstages auf sein Werk blickt und befindet, «es war sehr gut» (Gen 1,31), dann spricht er damit auch ein ästhetisches Urteil aus. Und wie Gottes Geschichte anfängt mit der auch ästhetisch guten Schöpfung, so läuft sie zu auf eine Neuschöpfung, die in überwältigendem Glanz erstrahlt. Auf das neue Jerusalem, das der Seher Johannes vom Himmel herabkommen sieht, «bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat» (Offb 21,2). Zu Gottes Wohltaten für das Geschaffene gehört zentral auch das Schöne.


Wie wohltuend deshalb, wenn Theologie Fragen nach schön und hässlich, nach der ästhetischen Qualität der Welt, wieder stellt. Und wenn sie dabei auch gleich Ross und Reiter klar benennt. Einen an Nützlichkeit und Effizienz orientierten Funktionalismus. Eine vom Kapital getriebene ökonomistische Architektur. Erwähnt werden müsste auch der überbordende Verkehr, dessen Imperative nicht nur die Gestaltung unserer Städte, sondern auch diejenige fast unserer gesamten Umwelt diktiert.


Das theologisch-ästhetische Instrumentarium, das gegen die Hässlichkeit unserer Umwelt aufgeboten wird, vermag mich freilich nicht so recht zu überzeugen. Die Bildsprache ist da bereits verräterisch. Eine an den alten Meistern orientierte – dabei freilich höchst anspruchsvolle – Malerei. Eine schnörkelig verzierte Gründerzeit-Villa. Und konzeptionell – eine bei Augustin ansetzende Metaphysik der Schönen, wie sie auch durch das gesamte Mittelalter wirksam war. Muss das Wesen unserer Kultur einmal mehr an der Vergangenheit genesen?


Besonders gewichtet aber eines, der fehlende Christus. Christliche Theologie hat ihr Zentrum im gekreuzigten und auferweckten Jesus – auch eine christliche Ästhetik. Eine theologische Rechenschaft über das Schöne kommt am Gekreuzigten nicht vorbei. Zwar sagt das Neue Testament nichts darüber, wie Jesus ausgesehen hat. Aufschlussreich ist aber, dass sein Leidensweg in den Evangelien im Rückbezug auf die Figur des «Gottesknechts» im Jesajabuch gedeutet wird. Vom Gottesknecht steht zu lesen, dass er «keine Gestalt noch Pracht» hatte und sein Aussehen nicht so war, «dass er uns gefallen hätte» (Jes 53,2). Gefoltert und entwürdigt, leidet der Mann am Kreuz nicht nur grimmige Schmerzen, er ist auch ästhetisch abstossend. Kein strahlender Gott, sondern jemand, von dessen geschundenem Leib man sich entsetzt abkehrt. Diesem Verachteten und Verfluchten aber wendet sich Gott wieder zu und erweckt ihn zu neuem Leben. Dies ist auch ästhetisch höchst belangvoll. Gott zeigt damit, seine Nähe gilt nicht denen, die in der Welt ansehnlich sind, sondern jenen, die man nicht ansehen will, die man – auch ästhetisch – übersieht.


Kreuz und Auferweckung Jesu implizieren deshalb eine ästhetische Bewegung nach zwei Richtungen. Der gekreuzigte Jesus ruft auch jene, die an ihn glauben, zur Solidarität mit den Hässlichen, Unansehnlichen und Übersehenen. In ihnen entdecken Christenmenschen die Marginalisierten, zu denen Jesus zeit seines Lebens gegangen ist, um am Ende einer von ihnen zu werden. Und am auferstandenen Jesus erkennen jene, die ihm folgen, den verachteten Menschen, den Gott angesehen und damit würdig und schön gemacht hat. Jeder Mensch ist einer, für den Christus auferstanden ist, jeder damit jemand, den Gott in seiner Liebe anblickt und damit schön werden lässt.


Damit ist das umschrieben, was man als eine christologische Ästhetik bezeichnen könnte. Eine Ästhetik, die besonders das Hässliche, das Verletzte ansieht, das, was vor den Augen der Welt nichts gilt. Und die gerade dort, im Unansehnlichen, die Schönheit dessen erkennt, dem Gott sich zugewendet hat. Als schön gilt einer christologischen Ästhetik, was Gott liebt. In der Spur von Gottes liebendem Blick, der den Menschen schön werden lässt, entdeckt eine christologische Ästhetik die Schönheit eines jeden Menschen.


Eine am gekreuzigten Jesus orientierte Ästhetik rechtfertigt freilich keine hässlichen Städte. Denn Gottes Blick lässt das Verachtete nicht hässlich bleiben, sondern lässt seine Schönheit sichtbar werden. So bleibt das Schöne das Ziel der Werke Gottes. Und damit auch dem Menschen für seine Weltgestaltung aufgegeben.



Zum Autor


Matthias Zeindler ist Leiter des Bereichs Theologie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und Titularprofessor für Dogmatik an der Universität Bern.


 

Replik Ursula Schumacher und Thomas Schumacher [30.03.2021]


Die Frage, wie sich Jesus Christus, der Gekreuzigte – nicht schön und strahlend für menschliche Augen, sondern abstossend in seinem Leid, seinen Schmerzen, seinem Todeskampf – in eine christliche Schönheitsdeutung integrieren lässt und wie mithin eine christologisch verantwortete Ästhetik gelingen kann, ist vielleicht die wichtigste und zugleich schwierigste Frage christlichen Schönheitsdenkens überhaupt – dann jedenfalls, wenn man an der Möglichkeit einer spezifisch christlich und theologisch qualifizierten Rede von der Schönheit prinzipiell festhalten und nicht einfach einem veräusserlichten oder, schlimmer noch, sozialdarwinistischen Beauty-Kult das Feld überlassen will. Mit der Antwort auf diese Frage steht und fällt tatsächlich ein theologisch valider Schönheitsbegriff: Ist es legitim, von der „Schönheit Gottes“ zu sprechen, wenn Gott sich uns Menschen gerade in Christus – und das impliziert: gerade am Kreuz, also gerade im zutiefst Unschönen – in unüberbietbarer Dichte und unverstelltester Klarheit gezeigt hat? „The Christian notion of beauty – and specifically of the divine beauty – must be able to include even the cross“ (Viladesau, 2006, 9), so lässt sich das Postulat formulieren, das sich dem theologischen Fragen an dieser Stelle auftut.


Um dieses Postulat zu erfüllen, genügt es jedoch nicht, lediglich zu deklarieren, dass dem Gekreuzigten eine spezifische Schönheit eignet; ein kreuzestheologisch verantworteter Schönheitsbegriff muss auch erklären, inwiefern dies der Fall ist – oder in anderen Worten: Er muss noch eine Schnittmenge mit der sonstigen Begriffsverwendung von „Schönheit“ aufweisen können, die sich hinsichtlich ihres Bedeutungsgehalts vom Konzept der „Gutheit“ ja klar abhebt. Und angesichts dieser Schwierigkeit kann ein Blick auf die semantische Entwicklung der biblischen Begriffe kabod und doxa einen erhellenden Beitrag leisten – zweier Begriffe also, die im Zentrum eines biblisch fundierten Schönheitsdenkens stehen.


Mit dem hebräischen Wort kabod können „Schwere“ und „Gewichtigkeit“ sowie, von dieser Grundbedeutung ausgehend, auch die Aspekte „Herrlichkeit“ und „Lichtglanz“ zum Ausdruck gebracht werden; gerade die beiden zuletzt genannten Bedeutungsdimensionen lassen die Relevanz dieses hebräischen Nomens für den Schönheitsdiskurs erahnen. Völlig unverständlich erscheint nun aber, weshalb in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, in der Septuaginta, mit doxa ein primäres Übertragungsäquivalent für kabod gewählt wird, das im griechischen Sprachraum vor allem die Aspekte „Meinung“, „Ansicht“ oder „Vorstellung“ konnotiert. Zur Erklärung dieses auf den ersten Blick irritierenden Befundes kann die Beobachtung beitragen, dass sowohl mit kabod wie mit doxa auch kollektive Meinungsbildungsprozesse benannt sein können, in deren Rahmen einer Person „Ruhm“ und „Ehre“ zugebilligt wird. Dass dies geschieht, beruht letztlich nun aber auf einer Gegebenheit, die in der betreffenden Person selbst liegt und zu der sich die Rezeption nicht beliebig verhalten kann – um das gemeinte Phänomen zu bezeichnen, eignen sich also vor allem Begriffe wie „Ausstrahlung“, „Charisma“ oder „Aura“.


Als Bedeutungsschnittmenge der beiden theologisch zentralen biblischen Schönheitsbegriffe kann damit etwas identifiziert werden, das sich als Resonanzereignis oder, noch einmal anders formuliert, als ein Aufstrahlen von Evidenz umschreiben lässt. Und es dürfte nun in der Tat höchst lohnenswert sein, diesen Aspekt einmal tentativ als semantischen Mittelpunkt eines theologischen Schönheitsdiskurses zu betrachten und nach den Konsequenzen für einen kreuzestheologisch verantworteten Schönheitsbegriff zu fragen. Wenn sich annehmen lässt, dass eine echte und tiefe Schönheitserfahrung im Kern der Sache stets ein sinnenhaft vermitteltes Resonanzgeschehen ist – also das zwingende, unbezweifelbare Innewerden von etwas bzw. in umgekehrter Betrachtungsrichtung ein Vorgang, in dem sich der rezipierenden Person eine hinter der Ebene oberflächlicher Empirie verborgene Gegebenheit zuschickt –, dann hat dies durchaus bedenkenswerte Konsequenzen für die Deutung der Schönheit des Gekreuzigten. Die Begegnung mit dem leidenden, geschundenen und nach äusserlich-weltlicher Bewertung gewiss nicht „schönen“ Christus kann unter dieser Voraussetzung nämlich gerade in höchster und dichtester Weise als Schönheitserfahrung verstanden werden – sprich: als ein Resonanzgeschehen, ein Ausstrahlungsereignis, in dessen Verlauf der Person, die davon im wahrsten Wortsinn be-troffen ist, auf sinnlich vermitteltem Weg etwas Tieferes aufgeht.


Es versteht sich von selbst, dass dieser biblisch fundierte Vorschlag, in einem derartigen Resonanzereignis den Kernaspekt einer Begegnung mit Schönem auszumachen, gegenüber einer gängigen Verwendung des Schönheitsbegriffs gravierende semantische Bedeutungsverschiebungen impliziert. Vielleicht ist dies jedoch im Sinne christlichen Einspruchs gegen eine oberflächlich-veräusserlichte Begriffsverwendung gerade zu begrüssen – zumal das Attribut „schön“ gegenwärtig ohnehin oft sehr unspezifisch und auch auf Gegebenheiten angewandt wird, die an authentischer, wahrer, tiefer Schönheit allenfalls im Modus der Perversion Anteil haben. Und so kann der vorgeschlagene semantische shift auf diesem Weg vielleicht dazu beitragen, die Rede vom „Schönen“ wieder in ihr Eigentliches zurückzuführen und eine falsche Ästhetisierung von „Hübschem“ oder „Schönlichem“ (Hartmut von Hentig) zu problematisieren.



Zur Autorin / zum Autor:


Ursula Schumacher ist Professorin für Katholische Theologie und Religionspädagogik (Schwerpunkt: Dogmatik und ihre Didaktik) und stv. Institutsleiterin des Instituts für Katholische Theologie an der PH Karlsruhe.

Thomas Schumacher ist Professor für Neues Testament an der Universität Fribourg und Zentralpräsident des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks.


Demnächst erscheinen vertiefende Beiträge von Ursula Schumacher und Thomas Schumacher zu den hier skizzierten Überlegungen.



Verwendete Literatur

- Viladesau, Richard, The Beauty of the Cross. The Passion of Christ in Theology and the Arts, from the Catacombs to the Eve of the Renaissance. Oxford, 2006.





Dario Colombo: Allmacht und Ohnmacht – Eine theologische Replik auf Hartmut Rosa [28.01.2021]


Hartmut Rosa analysiert unsere spätmoderne Gegenwart: Wir leben in einer Gesellschaft, die alles daransetzt, die Welt verfügbar zu machen. Dies zeigt sich an der Tendenz, alles erkennbar, sichtbar und erreichbar machen zu wollen, es unter Kontrolle zu bringen und schließlich nutzbar zu machen. Deshalb hat Geld in unserer Gesellschaft einen so hohen Stellenwert. Je mehr ich davon habe, desto schneller und einfacher kann ich mir die Welt verfügbar machen. Die Wirtschaft dient dem Geldverdienen und der Auftrag der Politik besteht darin, die Verfügbarmachung der Welt zu regeln. Was in dieser Mentalität jedoch verloren geht, ist eine Konzeption von Lebensqualität. Selten wird mehr die Frage aufgeworfen, ob sich die Verfügbarmachung wirklich lohnt. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich schreibt entsprechend: „Längst geht es in der Wirtschaftspolitik kaum mehr darum, mittels sinnvoll ausgewählter wirtschaftlicher Produktion die ganzheitliche Lebensqualität der Menschen zu verbessern, sondern vielmehr darum, den Absatz beliebiger Waren und Dienstleistungen zu steigern“ (Ulrich, 2016, 236). Dies zeigt sich besonders deutlich in der Coronakrise. Diskutiert wird meist nur, ob Maßnahmen der Wirtschaft schaden oder nicht. Selten werden Argumente vorgetragen, welche auf den gemeinschaftlichen Aspekt abzielen. Die Wirtschaft muss in Gang gehalten, die Gemeinschaft hingegen kann auf ein Minimum beschränkt werden. Es scheint offensichtlich: In unserer Gesellschaft regiert der Homo oeconomicus, für das Animal sociale gibt es nur wenig Platz.


Dieser Einseitigkeit gesellt sich eine andere hinzu: Der Homo oeconomicus hat in den letzten Jahren die Wichtigkeit der Gesundheit erkannt, denn: arbeiten kann nur, wer gesund ist. Oder vielleicht umgekehrt? Dient die Arbeit letztlich nur der Gesundheit? Diese „spätmoderne Überzeugung“ bringt der Psychiater und Theologe Manfred Lütz in seiner Kritik der Gegenwartskultur prägnant auf den Punkt: „Der gesunde Mensch und der Mensch, der noch gesund werden kann, ist der eigentliche Mensch“ (Lütz, 2013, 17). Vielleicht geht es sogar um eine gegenseitige Abhängigkeit? Es wird gearbeitet, um die Gesundheit zu erhalten und man muss gesund sein, um zu arbeiten – ein nie aufhörender Teufelskreis? Es scheint, als hätte sich die Gesellschaft – nachdem Friedrich Nietzsche den Christenmenschen vorgeworfen hat, sie seien dermaßen auf das Jenseits fixiert, dass sie das Diesseits vergessen (vgl. Nietzsche, 2017, 32) – nun so stark im Diesseits verloren, dass dabei etwas anderes aus dem Blickfeld geraten ist: Die Lebensqualität, oder wie es Lütz formuliert: die Lebenslust. Zwei Dinge aus der alltäglichen Erfahrung bestätigen diese These. Zum einen die allgegenwärtigen Sprüche: „das Wichtigste ist doch die Gesundheit“; „Hauptsache gesund“; hinzu kommt der scheinbar einzige Wunsch auf Gruß- und Geburtstagskarten: „Ich wünsche dir gute Gesundheit“ usw. usf. Zum andern die ebenso allgegenwärtige Rede von einer „Work-Life-Balance“. Damit wird angedeutet, dass wirkliche Lebensqualität gerade nicht in der Arbeit (work), sondern nur im „Leben“ (life) gefunden wird, wobei letzteres ersteres eben ausbalancieren muss. Damit wird das „Leben“ reduziert auf Freizeit und Ferien, die eigentlich einen sehr kleinen Teil der verbrachten Lebenszeit ausmachen. Kommt hinzu, dass die Hoffnungen des 20. Jahrhunderts darin bestanden, weniger zu arbeiten und mehr Zeit zum „Leben“ zu haben. Selbst heute, wo „weniger arbeiten“ ökonomisch machbar wäre, wurde diese Hoffnung nirgends bereits realisiert (vgl. Skidelsky, 2014, 29–63). Irgendetwas scheint schief zu laufen!


Woran könnte es liegen, dass unsere Gesellschaft mehr Lebensqualität zu erreichen sucht, aber sie nicht erreicht? Rosa beantwortet diese Frage in seiner Monographie Resonanz, eine Soziologie der Weltbeziehungen damit, dass der Gesellschaft eine einheitliche Konzeption von Glück bzw. von Lebenssinn und Lebensfülle fehlt. Aufgrund dieses Mangels besteht die einzig sinnvolle Alternative darin, die eigene Ressourcenausstattung zu verbessern, d.h. Geld zu verdienen: „Da sie nicht sicher sagen können, was ein gutes Leben ist, welcher Konzeption von Glück sie folgen wollen und welches ihr innerer Kern oder ihr inneres Maß ist, sind sie nachgerade dazu gezwungen, sich auf ihre Ressourcenausstattung zu konzentrieren“ (Rosa, 2019, 44f). Weil nicht sicher gesagt werden kann, was Lebensqualität und Lebensfülle bringt, wird die Ressourcenlage optimiert, damit man sich Lebensqualität und Lebensfülle erwerben kann, wenn man dann weiß, worin sie bestehen.


Verbindet man diese Analyse mit der von Rosa vorgetragenen Spannung von Allmacht und Ohnmacht, ergibt sich eine erschreckende Schlussfolgerung: Nicht nur wird der Traum von der vollständig verfügbaren Welt zum Albtraum der vollkommen toten Welt, weil diese zum leblosen Objekt gemacht wurde; es wird auch klar, dass sich unsere wirtschaftlichen, politischen und gesundheitlichen Systeme genau in diese Richtung bewegen: Sie werden – wenn das bisher Gesagte stimmt – den westlichen Traum notwendig und zunehmend in einen Albtraum verwandeln. Denn offensichtlich gelingt es der Gesellschaft nicht, ein „gemeinsames Gut“, eine „gemeinsame Lebensfülle“ oder einen „gemeinsamen Lebenssinn“ zu bestimmen – und es gibt wenig Anzeichen dafür, dass sich daran etwas ändern wird. Also wird die zunehmende Verfügbarmachung zur einzigen Option.


Gegenprojekte sind gefragt: Es braucht eine Resonanztheorie von Hartmut Rosa, es braucht eine Ökonomie der Lebensfülle, wie sie Peter Ulrich vertritt, es braucht ein Überwinden der Unersättlichkeit, wie es Robert und Edward Skidelsky fordern, und es braucht die Lebenslust, von der Manfred Lütz spricht. Die Frage ist jedoch, ob alle diese Vorschläge ausreichen, um wirklich etwas zu verändern. Nietzsches Vorwurf war die Jenseitsverbissenheit der Christen und damit hatte er wahrscheinlich recht. Eine Glaubensgemeinschaft, die sich zu sehr auf das Jenseits fokussiert und dabei das Diesseits vergisst, ist für die Welt keine große Inspiration. Das Gegenteil einer Diesseitsfokussierung ist der Welt jedoch keine größere Hilfe. Die Fixierung auf das Diesseits ohne einen tragenden, jenseitigen Grund ist im wahrsten Sinne des Wortes hoffnungslos. Eine solche Gesellschaft wäre dazu verdammt, die Welt zunehmend verfügbar zu machen. Denn ohne einen tragenden, jenseitigen Grund gibt es nicht nur faktisch keine gemeinsamen Konzeptionen eines guten Lebens, sondern es kann auch ontologisch nicht von einem guten Leben gesprochen werden. Übrig bleibt, was individuell für das Wahre, Schöne und Gerechte, d.h. was für das Gute gehalten wird; und eben dies befeuert die individuelle Verfügbarmachung der Welt. Am Ende bleiben nicht Glaube, Hoffnung und Liebe, sondern nur der Wille zur Macht. Dem Machtmenschen werden Resonanz, Lebensfülle, Genügsamkeit und Lebenslust weichen müssen: Der Traum vom gelungenen Leben wird zum Albtraum – die Folge wird die Abschaffung des Menschen durch Nietzsches „Übermenschen“ sein.


Rosa hat zwar Recht: „Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten“ (Rosa, 2019, 762). Aber damit diese Hoffnung berechtigt ist, muss jemand sprechen …



Verwendete Literatur


- Lütz, Manfred, Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult. München 2013.

- Nietzsche, Friedrich, Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. Hamburg, 72017

Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2019 [2016].

- Skidelsky Robert; Skidelsky, Edward: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. München, 22014.

- Ulrich, Peter: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern 52016.



Zum Autor


Dario Colombo, MTh, ist Diplomassistent am Lehrstuhl für Dogmatik, Theologie der Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg.


Folge Nr. 5


Folge Nr. 4



Folge Nr. 3


Folge Nr. 2



Folge Nr. 1


Walter Dürr: Weihnachten - Gott kommt uns nahe [22.12.2020]


Wie soll das gehen? Im Jahr der Corona-Pandemie? In einer Zeit, wo man Kontakte reduzieren und soziale Distanz wahren soll. Aber eigentlich würde doch christliche Nächstenliebe heißen, sich umeinander zu kümmern, sich nahe zu kommen, gerade auch demjenigen, der unter die Räuber gefallen ist…


In der gegenwärtigen Krise konnten wir die Ambivalenz des technologischen Fortschrittes „hautnah“ erleben: Begegnungen, Treffen und Tagungen fanden via Zoom, Skype oder MS-Teams statt – virtuell. Dies alles hat großartige Möglichkeiten eröffnet, auch gerade für uns als Studienzentrum. Nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit den Studientagen 2020, die als Online-Initiative „wachet und betet“ stattfand oder die im Herbst lancierte Medienplattform „Glaube & Gesellschaft“.


Doch zugleich wurde uns schmerzlich bewusst, dass da doch noch etwas Wichtiges fehlt. Im Internet können wir zwar Distanzen schon irgendwie überwinden. Aber, so schreibt Martin Heidegger mit Recht:


„Das hastige Beseitigen aller Entfernungen bringt keine Nähe; denn Nähe besteht nicht im geringen Maß der Entfernung. Was streckenmäßig in der geringsten Entfernung zu uns steht, durch das Bild im Film, durch den Ton im Funk, kann uns fern bleiben. Was streckenmäßig unübersehbar weit entfernt ist, kann uns nahe sein. Kleine Entfernung ist nicht schon Nähe. Große Entfernung ist noch nicht Ferne.“


Wir sind nicht virtuelle, sondern fleischliche Wesen, und wir brauchen leiblichen Kontakt und Kommunikation. Die virtuelle Sphäre erweitert aber ersetzt nicht die leibliche Begegnung. Und darum ist auch die gute Nachricht – Gott wird Mensch, einer von uns, einer den man sehen, hören und berühren konnte (vgl. 1 Joh 1,1) – wirklich ein Evangelium: Wir sind nicht allein! Immanuel, der Gott mit uns, kann auch dieses Jahr erfahrbar werden, trotz Distanz und Schutzmaßnahmen. Wenn wir also ins Antlitz unserer Kinder, unserer Nachbaren oder derer die unter die Räuber gefallen sind blicken, dann machen wir die urmenschliche Erfahrung einer Begegnung mit dem Du, und darin begegnen wir dem Herrn selber. Solche Geschenke sind ganz menschlich und ganz göttlich zugleich. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit…“ – so singen viele von uns alljährlich Georg Weissels Adaption von Psalm 24: „Erhebt, ihr Tore, eure Häupter, erhebt euch, ihr uralten Pforten, dass einziehe der König der Herrlichkeit“ (Ps 24, 7.9) – dieser König der Herrlichkeit will uns nahe kommen und in der Niedrigkeit unseres Menschseins uns begegnen.

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