Elio Jaillet: Vom Sinn und der Unüberwindbarkeit des Materialismus – Kommentar [06.11.2020]
„Kann der Materialismus wahr sein?“ Kann eine Weltsicht, für die letztlich alles tot ist, wahr sein? Johannes Hoff antwortet darauf: „Nein.“ Und zwar weil diese Sicht unsere alltägliche Erfahrung nicht sinnvoll erschließen kann. Im Horizont der alltäglichen Erfahrung sind der Materialismus (alle Wirklichkeit besteht aus Körpern und deren vielfältigen Interaktionen) und dessen Zwillingsbruder der Spiritualismus (alle Wirklichkeit ist geistig und Produkt eines selbstbewussten Geistes) unsinnige Hirngespinste. Keiner dieser Gesichtspunkte kann uns auf sinnvolle Weise die Welt als Welt erschließen. In unserer Erfahrung ist die Welt immer als erlebte Welt gegeben, als lebendige und nicht als tote Welt; und da ich sie immer nur als etwas Lebendiges erfahren kann, ist es auch ein mir immer vorausgehendes so-und-nicht-anders Gegebenes: dies ist eine natürliche Haltung. Und daher kann der Materialismus im Letzten nicht wahr sein.
Ist das wirklich so? Ich zögere. Ich kann nur hoffen, dass dies wahr ist, dass das Lebendige letzten Endes wirklich wahr sei. Im Angesicht des Todes kann diese Hoffnung aber auch ganz verblassen. Nicht weil ich auf einmal nicht mehr existieren werde. Nein, vielmehr verblasst meine Hoffnung angesichts einer viel schwerwiegenderen Frage: wie soll ich um Gottes Willen denn lieben, in der Zeit, die mir gegeben ist?
Als Christ ist mir das Leben in Fülle versprochen. Besser noch: es ist mir schon jetzt im Namen Jesu Christi gegeben. Der erste Johannesbrief bringt diese Zusammenhänge ins Wort: „Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes“ (1 Joh 5,13). Als Glaubender habe ich dieses Leben und sollte es wissen. Ist das nicht die große Verheißung, die als hermeneutischer Schlüssel über meinem Leben stehen sollte? Genauso ist es. „Amen“ müsste man sagen. Aber mit dieser Verheißung kommt auch ein Gebot: „liebe!“ Dies ist der Grund, warum ich den Materialismus nicht einfach ignorieren kann.
Dieses wichtigste Gebot Jesu gibt sich in dreifaltiger Gestalt: „Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften‘“ (Deut. 6,4f; eigene Hervorhebungen). Das andere ist dies: “Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18; eigene Hervorhebung). „Es ist kein anderes Gebot größer als dieses“ (Mk 12,31). „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1 Joh 4,15) – in eigenen Worten: liebe, so wie Gott liebt, um in Gott zu sein (vgl. 1 Joh 4,19). So bist du aus Gott, so lebst du wirklich, das heißt: so hast du das ewige Leben und wächst in es hinein. (Mit Recht zeigt Corinna Dahlgrün, wie das Liebesgebot als Strukturmerkmal des christlichen Lebens bzw. der christlichen Spiritualität zu verstehen ist. [vgl. Dahlgrün, 2018, 55–57]). Gott hat von Anfang an seinen Sohn geliebt (Mk 1,11), der Sohn selbst hat sein Leben lang geliebt und ist von allen verlassen am Kreuz gestorben. In diesem Leben zeigt uns der Sohn, was Liebe ist und wie sie ist.
„Wie soll ich lieben?!“ Diese Frage jagt mir oft genug einen Schrecken ein, und genau darin suche ich Möglichkeiten des Verstehens, die diesen Schrecken zu lindern vermögen. Wenn dieses Leben Jesu das wahre Leben sein soll, wenn dies das Leben Gottes ist, das Leben der Liebe, wenn dieses am Kreuz endende Leben mein eigenes Leben sein soll, so wie es die Auferstehung des Gekreuzigten bezeugt, wer sollte da nicht, wie die Jüngerinnen Jesu entsetzt, voller Furcht und stumm davonlaufen (vgl. Mk 16,8)? In diesem Lichte treibt mich die Frage „wie soll ich lieben?“ irgendwie doch zum Materialismus – es dies aber kein billiger Materialismus, sondern eine „tiefe Diesseitigkeit“, wie sie Dietrich Bonhoeffer fordert (vgl. Bonhoeffer, 2013, S. 195f). Ein solcher Materialismus erachtet die Wirklichkeit nicht als tot. Vielmehr versucht er erstens, das Gesetz im Lebendigen zu verstehen und dieses ernst zu nehmen. Zweitens versucht er auch, dem Liebesgebot wirklich gehorsam zu sein. Welche Regel (welches wie) leitet die Interaktionen, die das Leben in der Liebe konstituieren? „Gott“? Ganz bestimmt. „Weisheit“? Ja, so kann ich es verstehen – so darf ich zumindest versuchen, dieses eine Leben in der Liebe zu leben. Und dennoch, ich erfahre, dass Liebe sich anscheinend nicht unmittelbar in Lebendigkeit durchsetzt: „Da pries ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben haben“ (Koh 4,1–2). Der Wirklichkeit als lebendiger Dynamik, wie sie konkret gegeben ist, kann man nicht den Mund verschließen, und genauso muss man lieben im Angesicht des Todes.
Wenn man Jesu Christi Gebot folgen will, wenn man in Wahrheit und in Wirklichkeit lieben soll, weil man an ihn als den Sohn Gottes glaubt, dann kann man nicht nicht Materialist in diesem Sinne sein. Dann kann man nicht über den Tod des Gottes- und Menschensohnes hinwegschauen und so tun, als ob nicht da das Ende alles Sichtbaren läge. Es gibt sich oft genug nichts anderes mehr zu sehen. Da kann man nicht anders, als mit dem letzten Ernst die Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen und die Macht des Todes anzuerkennen. Durch den Blick eines Menschen, kommt die Liebe zum Vorschein – „das Unsichtbare wird sichtbar“. Aber an diesem Blick haftet auch der Tod: das Einzige, was ich von ihm letztlich wissen kann, ist, dass er demselben Gesetz unterliegt und sterben muss.
Lieben heißt im Wissen um dieses Gesetz zu leben, denn Liebe gibt es nicht ohne Gesetz. Der Tod hat noch Macht über diese Welt. Das ist die Wahrheit des Materialismus. Dennoch hat er nicht das letzte Wort: die Liebe hat das letzte Wort, „die Liebe ist stark wie der Tod“ (Hoh 8,6). Der Blick in die Augen eines geliebten Menschen ist belebende Kraft im Angesicht des tötenden und toten Gesetzes. Aber dies ist eine Wahrheit des Glaubens, nicht des Verstandes. Ich kann rational nicht über die Wahrheit des Materialismus entscheiden. Ich kann nur glauben, dass Gott das letzte Wort haben wird, hoffen, dass sein Handeln in Jesus Christus sich als wahrer und wirklicher erweisen wird als die Erfahrung des Todes. Nur so kann ich dem Gesetz gehorchen, und so soll ich lieben.
Elio Jaillet ist Assistent im Bereich Systematische Theologie an der Universität Genf.
Verwendete Literatur
- Dahlgrün, Corinna, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Berlin 22018.
- Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Gütersloh 212013.