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Reduktionismus – was ist das?

Der Begriff „Reduktionismus“ kommt vom lateinischen Verb „reducere“, das „zurückführen“ bedeutet. Wer für einen ontologischen (nicht nur methodischen) „Reduktionismus“ eintritt, der führt die Viefalt der sich zeigenden Phänomene auf eine einzige Grundwirklichkeit zurück, etwa die Materie (Materialismus) oder den Ausschnitt der Wirklichkeit, der naturwissenschaftlich erkennbar ist (Naturalismus). Oft sind Reduktionismen durch im Augenblick besonders erfolgreiche Wissenschaften motiviert (Physikalismus, Biologismus). Immer findet sich in der Rhetorik des Reduktionismus direkt oder indirekt die Formel „x ist nichts anderes als y“ („nothing buttery“). Kein Reduktionismus ist aber selbstverständlich. Jeder stellt eine nicht empirisch begründbare, metaphysische, ontologische Option dar, die begründungspflichtig ist und sich nicht „von selbst“ ergibt. Alternativ ist eine Haltung der „Rettung der Phänomene“, die Einheit und Vielfalt unserer Wirklichkeitserfahrung auch in der ontologischen Analyse gerecht zu werden sucht.


 

Martin Brüske: Zur Dialektik der Reduktion – Kommentar [07.09.2020]


Reduktion ist „sexy“, weil attraktiv und erfolgreich. Als methodischer Zugriff auf die Natur, der eine Fokussierung und Präzisierung derjenigen Fragen erlaubt, die wir an sie stellen, gehört sie zu den Erfolgsgeheimnissen neuzeitlicher Wissenschaft. Allein sie deckt so gesetzmäßige Zusammenhänge auf, die auch technisch verwertbar sind. Holistische Theorien stillen vielleicht das Bedürfnis nach Kontemplation, aber schon Francis Bacon (1561–1626) fand sie in der Gestalt der teleologischen Anschauung der Natur „steril (was für eine Metapher!) wie eine gottgeweihte Jungfrau“ (Bacon, 1623, III,5). Reduktion dagegen verleiht dem technischen Eros Flügel. Sie führt zur Fruchtbarkeit technischen Herrschaftswissens. Ist das falsch? Selbstverständlich nicht – denn kaum jemand würde ernsthaft auf diese Früchte verzichten wollen. Ist es verdächtig? Schon eher! Die Denunziation der Kontemplation, die in Bacons abfälliger Metapher steckt, sollte zu denken geben: Was geschieht mit den Subjekten, ihrer Wahrnehmung der Welt und ihrem ganzen Weltverhältnis, wenn der reduzierende Zugriff auf die Welt zur favorisierten Tugend der Erkenntnishaltung wird, der Mensch darin zum „Herr und Besitzer der Natur“ (Descartes, 1637, VI,2) und das Instrument jenes reduzierende Zugriffs die Folterbank der hochnotpeinlichen Befragung (vgl. Fischer, 1904, 70–81) ist? Und – denken wir an „Faust“ und seine neuzeitliche „Neuübersetzung“ des Johannesprologs („Im Anfang war die Tat“): Wieviel Renaissance-Magier steckt im Erbgut des neuzeitlichen „Forschers“ – ein Vorfahr, dessen er sich heute eher zu schämen pflegt, den er verleugnet und dessen Präsenz im Erbgut doch immer wieder in Erscheinung tritt? Und wieviel Renaissance-Platoniker (übrigens historisch nicht selten identisch mit dem Magier-Experimentator in seiner alchemistischen Küche), der nicht nur das Wesen der Dinge in der Erscheinungswelt sucht, sondern jenseits der Erscheinungswelt das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Jedenfalls bleibt diese Suche nach der wahren Wirklichkeit jenseits der Erscheinungswelt – selbst oder gerade in der Umkehrung eines materialistischen Naturalismus – ein platonisierender Grundzug in so manchen Selbstdeutungen neuzeitlicher Wissenschaft. Gerade in einem nunmehr nicht nur methodischen, sondern ontologischen Reduktionismus, der sagt Wirklichkeit x ist „nichts anderes“ als y.

Tatsächlich enthüllt sich im Weg von einem methodischen zum ontologischen Reduktionismus eine bemerkenswerte Dialektik. (Dieser Abschnitt ist inspiriert von Mutschler, 2002, bes. 181–189) Zunächst führt ja der Weg von einer holistischen Anschauung der Natur zur reduzierten, aber präzisen und experimentell kontrollierbaren Frage an sie, die genau einen genau umgrenzten Zusammenhang ergründen will, zu einer metaphysischen Entlastung und Leichtigkeit. Natürlich verschwindet Metaphysik nicht ganz. Aber jenseits der unabtrennbaren Amalgamierung der aristotelischen Physik mit seiner Metaphysik, gerät die Metaphysik nun in die Vorfragen und Randzonen – und genau dies setzt die neue Physik frei. Zumindest was ihren – mathematisierbaren – Kernbereich angeht. (Nebenbei: Ist das umgekehrt auch so? Wie stark ist aristotelische Ontologie an seine Physik gebunden? Könnte die Emanzipation der neuen Physik nicht auch Einsichten der aristotelischen Metaphysik allererst aus ihrer naturphilosophischen Gefangenschaft freisetzen und zu sich bringen?)

Aber schon hier beginnt die Dialektik: Große Physiker behaupten von sich ganz ausdrücklich, dass sie nicht in Formeln denken und deshalb Bilder und damit unsere Anschauungswelt eine entscheidende Rolle für den Denkprozess spielen... Zunächst aber gilt dennoch: Der Rang eines Physikers hat offenbar nichts mit seinen weltanschaulich-metaphysischen Optionen zu tun. Ganz entgegen der Geschichten, die in den Kreisen des neuen Atheismus so oft erzählt worden sind, dass sie zur unkritisch geglaubten Dogmatik mutiert sind. Newton: Christ mit okkulten Neigungen, Einstein: Spinozist, Heisenberg: Platoniker, Weinberg: Materialist usw. usw. Neuzeitliche Physik, verbunden mit methodischer Reduktion, ist offensichtlich mit unterschiedlichsten weltanschaulich-metaphysischen Optionen vereinbar. Und dies hat vermutlich gerade mit dem methodischen Reduktionismus zu tun.

Klar wird so auch: Methodische Reduktion erzwingt offensichtlich keinesfalls auch einen ontologischen Reduktionismus. Reduktion als Erfolgsgeheimnis neuzeitlicher Wissenschaft erzeugt vielmehr gerade metaphysische Vieldeutigkeit. Das heißt aber gerade auch – und hier nimmt die Dialektik Fahrt auf: Obwohl das „Kerngeschäft“ metaphysisch entlastet ist, verschwinden die metaphysischen Fragen nicht. Denn die Genannten sind esoterische Christen, Spinozisten, Platoniker und Materialisten nicht etwa als bloße Privatleute, sondern mindestens auch als Naturwissenschaftler. Sie geben damit auch dem einen Rahmen, was sie naturwissenschaftlich begreifen. Und das scheint – gerade bei Wissenschaftlern dieses Kalibers – einem tief empfundenen Bedürfnis zu entsprechen. Wenn der Rang dieser Wissenschaftler aber zugleich dafür spricht, dass zwar diese weltanschaulich-metaphysischen Optionen untereinander unvereinbar sind, aber ihre Wahl als Rahmen des Erforschten logisch möglich ist und nicht auf groben Denkfehlern beruht, dann ist offensichtlich, dass keine dieser Deutungen unmittelbar aus dem Erforschten abgeleitet werden kann. Noch einmal also: Das gerade durch methodische Reduktion freigesetzte Material neuzeitlicher Wissenschaft ist metaphysisch vieldeutig. Für das Problem eines ontologischen, weltanschaulichen Reduktionismus bedeutet das: Er ist niemals unmittelbar aus den empirischen Gegebenheiten begründbar, ja, er wird durch sie auch nicht nahegelegt. Er ist selbst eine metaphysische Option, eine ontologische Interpretation der Wirklichkeit, die in keiner Weise selbstverständlich ist und die entsprechend Begründung und Diskussion braucht – jenseits des bloßen Verweises auf die Ergebnisse der Wissenschaft.

Die wirkliche oder vermeintliche Plausibilität der weltanschaulich-metaphysischen Optionen mag deshalb jeweils viele und unterschiedliche Quellen haben. Diskutiert werden aber müssen sie philosophisch. Hier entfaltet sich nun die volle Dialektik unseres Problems: Methodische Reduktion entlastet zunächst von Metaphysik. Sie erzeugt dabei metaphysische Vieldeutigkeit. Aber sie beseitigt nicht das Bedürfnis nach metaphysischer Deutung. So lange dabei das philosophische Niveau der Diskussion nicht gesichert ist, drohen unkritisch gewonnene, vielleicht nur scheinbare Plausibilitäten dieses Bedürfnis zu erfüllen. Meiner Überzeugung nach gehört der heute so ungeheuer populäre und kaum hinterfragte naturalistische Reduktionismus genau hierher. Und genau diesem Ziel soll u.a. die Diskussion hier dienen: unsere verborgenen Metaphysiken und ihre wirklichen oder vermeintlichen Quellen der Plausibilität sichtbar zu machen und einer kritischen philosophischen und theologischen Diskussion zuzuführen.


Zum Autor

Martin Brüske ist promovierter Theologe aus Fribourg (CH). Er ist Lehrbeauftragter für ökumenische Theologie an der Theologischen Fakultät in Fribourg und unterrichtet Ethik am TDS Aarau.


Verwendete Literatur

- Bacon, Francis, De dignitate et augmentis scientiarium. In: The Works of Lord Bacon. Bd. 2. London 1841 [1623].

- Descartes, René, Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences / Bericht über die Methode, die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu erforschen. Stuttgart 2019 [1637].

- Fischer, Kuno, Francis Bacon und seine Schule. Entwicklungsgeschichte der Erfahrungsphilosophie. Heidelberg 1904.

- Mutschler, Hans-Dieter, Naturphilosophie. Stuttgart, 2002.


 

Replik Michael Hartlieb [09.02.2021]


Erster Kontakt mit dem Portal „Glaube & Gesellschaft“ sowie den Beiträgen „Was dem modernen Denken fehlt“ und „Zur Dialektik der Reduktion“: Wirkliche, echte Begeisterung. Nachdenken über theologische und philosophische Probleme kann, hier wird es offenbar, auf zeitgenössisch-ansprechende Weise stattfinden, mit starken und aufwändigen Illustrationen, hochkarätigen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, handwerklich blitzsauber und insgesamt wie gemacht für die „Generation YouTube“. So muss das aussehen, so muss das gemacht sein. Gratulation an alle Verantwortlichen nach Fribourg!


Ob diese „Generation YouTube“ – oder sagen wir zumindest: aufgeweckte, wissbegierige Leute – das Video allerdings mit dem gleichen Genuss ansehen würde wie der Autor dieser Zeilen soll einmal dahingestellt bleiben. Denn ob dieser Autor vor seinem jahrelangen, einschlägigen Studium überhaupt nur die dem Video beigesellte Definition von „Reduktionismus“ verstanden hätte, bliebe fraglich. Jene bewirbt das Video immerhin unter anderem mit dem erläuternden Hinweis, dass „[J]eder [...] eine nicht empirisch begründbare, metaphysische, ontologische Option dar [stellt, M.H.], die begründungspflichtig ist und sich nicht ‚von selbst‘ ergibt. Alternativ [sei, MH] eine Haltung der ‚Rettung der Phänomene‘, die Einheit und Vielfalt unserer Wirklichkeitserfahrung auch in der ontologischen Analyse gerecht zu werden sucht.“ – Sätze für die Ewigkeit, die auch in einem universitären Oberseminar geäußert werden könnten, ohne dass sich selbst der Ordinarius für sie schämen müsste. Vorsichtig ausgedrückt und mit aller eigenen Sympathie für den redlichen und begrüßenswerten Ansatz, mit wissenschaftlich gehaltvollen Texten und theologisch-philosophischer Fachsprache eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen: Wenn die Theologie oder die Philosophie mit der Gesellschaft ins Gespräch kommen möchte, dann sollten sie zumindest versuchen, ihre eigene Sprachblase zu verlassen. Fleißkärtchen für die höchste Fachwortdichte werden heute vielleicht noch von höherer Stelle erhofft, aber leider nicht mehr verteilt.


Nach diesen Vorbemerkungen nun aber zum eigentlichen Thema, nämlich dem Beitrag: „Was dem modernen Denken fehlt“. Spannungsreich dargestellte, sympathisch vorgetragene und neue Erkenntnisse verschaffende (halleluja, kann der Hartmut Rosa schnell sprechen!) Schlaglichter aus unterschiedlichen Fachdisziplinen verschaffen hier sehr interessante Einblicke in eine laufende Debatte – aber mit einem gewissen Schönheitsfehler: Unter den Gesprächsteilnehmern findet sich keiner, der das „moderne Denken“ auf die extrem naturalistisch-reduktionistische Weise vertritt, gegen welche Position bezogen wird. So führt das Video, führen die Gesprächspartner gegen einen gefühlten Gegner eine Art Schattengefecht – und der hier ausgemachte „Gegner“ eines reduktionistischen Materialisten erscheint dadurch viel grösser, als er eigentlich ist.


Zu dieser Einschätzung führen Spuren, die durch das Video übrigens bereits selbst grundgelegt werden. Beispielsweise wird dort namentlich durch Johannes Hoff festgehalten, dass ein Extremfall eines reduktionistischen Materialisten, jemand, der die Möglichkeit einer brennenden Kerze in einer Leichenhalle allein auf den zur Verfügung stehenden Sauerstoff zurückführe, zurecht als Verrückter betrachtet werden würde. Das bedeutet im Umkehrschluss: Zu differenzieren ist unbedingt zwischen dem naturalistischen Reduktionismus als sinnvoller pragmatischer Methode und einem tatsächlich unsinnigen, maximal verengten Blick auf sich und seine Umwelt unter physikalistischen Vorzeichen. Es ist unbedingt und in positiver Absicht festzuhalten: Das „Wunder der Neuzeit“ wäre schlechterdings ohne die erworbene Fähigkeit, alles „Überflüssige“ aus dem experimentellen Gesamtaufbau von vornherein entfernen zu können, nicht möglich gewesen. Dass Forschende heute in Rekordzeit einen Impfstoff gegen Covid-19 entwickeln konnten, liegt zu einem Gutteil daran, dass heute alle anderen früher durchaus relevanten Einflussgrößen auf experimentelle Versuche – Mondphase, Dämonen, Gnade der Götter etc. – von vornherein als irrelevant ausgeschlossen werden können. Fast alle Interviewten legen in analoger Weise nahe, dass der Reduktionismus als Instrument zur Erzielung wissenschaftlicher Erkenntnis eine ziemlich großartige „Erfindung“ des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Instrumentariums ist, aber eben nur eine winzige, einzige von zahlreichen möglichen anderen Deutungsperspektiven der Welt kennzeichnet.

Meiner ganz unnachmaßgeblichen Lebens- bzw. Gesprächserfahrung nach – horribile dictu: sogar mit zahlreichen Naturwissenschaftler*innen! – neigen wir Menschen denn auch durchaus dazu, je nach Situation eine passende Perspektive auf die Welt einzunehmen, sogar bei Bedarf zwischen unterschiedlichen Perspektiven und auch Rollenverständnissen hin- und herzuschalten – was an anderer Stelle im Video „Vielperspektivität“ genannt wird und von Johannes Hoff in einem Folgevideo übrigens noch einmal ausführlicher entfaltet wird: Kann Materialismus wahr sein

Vielleicht ist aber gerade diese Vielperspektivität eine der ganz großen Errungenschaften des Denkens der Moderne: Wir Menschen müssen uns gerade nicht festlegen auf die eine, einzige Weltperspektive, sondern wir können geradezu spielerisch – je nach Kontext – unterschiedliche Deute- und Selbstverständnisperspektiven zur Welt und in ihr einnehmen. Es ist von daher keinesfalls schlecht, dass der Augenarzt, wie er im Video kurz in karikierender Absicht zur Sprache kommt, zunächst das Auge als Organ betrachtet, welches nach unterschiedlichen technischen Begriffen und Fähigkeiten zu beurteilen ist. Wir müssen allerdings ebenso von diesem Arzt erwarten dürfen, dass er auch die Rolle des vertrauensvollen Therapeuten einnehmen kann, der einen Blick auf den ganzen Menschen hat, dem dieses Auge gehört.


Diese Notwendigkeit der Kontextualisierung betrifft aber nicht nur die Sphäre des Expertentums, denn auch in den allerkleinsten und unwichtigsten Situationen können wir an uns selbst diesen fortwährenden Wechsel der Perspektiven beobachten: Bei einem Blick auf die Bergwelt des Berner Oberlandes fällt es den meisten Menschen ziemlich leicht, sich einem empathischen Gefühl für das Erhabene ebenso hinzugeben, wie sie in der nächsten Minute glaziologisches Wissen aus dem Geographieunterricht für ihre analysierenden Blicke auf die Gletscher nutzen können.


Mein Eindruck ist deshalb: „Was dem modernen Denken fehlt“ ist eher eine Herzens- und Seelenbildung dessen, welches Haltungs- und welches Perspektivenrepertoire in einer je spezifischen Situation zur Verfügung stehen sollte, als dass man darum fürchten müsste, dass alle anderen validen Optionen der Weltbetrachtung im Vergleich zum naturalistischen Reduktionismus auf dem Weg ins Vergessen sind. Wie diese „Bildung“ zu erreichen ist, das steht natürlich wiederum auf einem ganz anderen, hochinteressanten Blatt, das für künftige Beiträge des Portals relevant werden könnte. Deutlich wird: Das Portal „Glaube & Gesellschaft“ gibt vielfältige Impuls zum eigenen Nachdenken – man darf sich auf weitere freuen.



Zum Autor

Michael Hartlieb ist promovierter Theologe und christlicher Sozialethiker. Seit August 2020 ist er Bereichsleiter für Theologische Grundbildung am Theologisch-pastoralen Bildungsinstitut (TBI) in Zürich.



Oliver Dürr: Im Ende der Anfang: COVID-19 und die Auferstehung – Kommentar [01.09.2020]


Die derzeitige Corona-Pandemie ist eine globale Krise und sie fordert uns alle heraus. Krisen lösen bei unterschiedlichen Menschen zurecht verschiedene Reaktionen aus: So können die persönlichen, wirtschaftlichen und politischen Folgen der Krise zu Verunsicherung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung führen, – und zwar mit gutem Grund, denn kein Mensch kann die mittel- und langfristigen Folgen der heutigen Entwicklungen wirklich abschätzen und entsprechende Prognosen müssen uns suspekt vorkommen.


Gleichzeitig inspirieren dieselben Herausforderungen auch neue und ermutigende zwischenmenschliche Initiativen, wissenschaftliche Kooperationen und politische Projekte, die in dieser Form bisher undenkbar gewesen wären. Schlussendlich geschieht im Moment der Krise aber auch eine unverhoffte Klärung der Prioritäten, die in der zerstreuten Geschäftigkeit unseres Alltags sonst kaum gelänge: Es wird auf einmal deutlich, wie vieles wir aus unserem Lebensplan ziemlich verlustfrei streichen können – und umgekehrt wird der Wert von vielem deutlich, worauf wir in der Krise verzichten müssen.


So erinnern wir uns unmittelbar an das, was wirklich wichtig ist: Gemeinschaft, Familie, Freunde, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Güte, Friede, praktische Unterstützung für hilfsbedürftige Menschen, Solidarität – und in all diesen Menschen und durch all diese Werte: Gott. Aber dieser Gott offenbart sich dem christlichen Glauben nicht nur direkt im Guten und Schönen, vielmehr muss sich dies bewähren in Trauer, Leid und Tod – in der Krise. Dieser Gott ist zugleich nah und dennoch schwer zu fassen, wo aber Gefahr ist, wächst auch das Rettende.


So kennt auch Jesus Christus diesen schmerzvollen Weg und es ist seine Auferstehung (die wir in der österlichen Freudenzeit feiern), die jenes Leiden transformiert und in ein neues Licht stellt. Entsprechend kennt der christliche Glaube von seinen Ursprüngen her bereits die Tradition des Memento mori: Gedenke Mensch, dass auch du einmal sterben musst (vgl. Ps 90,12). Wo diese Spiritualitätslinie nicht im Sinne einer zynischen Gleichgültigkeit oder im Zuge einer leeren Selbstverbesserungsideologie ausgelegt, sondern von einem robusten Glauben an die Auferstehung zehrt (und zwar Auferstehung derjenigen Welt in Raum, Zeit und Materie, innerhalb derer wir Menschen existiert), da wird sie uns in unserer heutigen Situation zur Quelle des Glaubens und der Hoffnung. In der grössten Krise erweist sich je neu die tragende Kraft Gottes, ja selbst der Tod wird verschlungen vom Sieg (vgl. 1 Kor 15,55).


Also ist die Aufforderung Jesu an seine Jünger im Garten Gethsemane, «Wachet und betet» (Mt 26,41), zwar ursprünglich in die tiefste Nacht der Ungewissheit hineingesprochen, wir aber haben heute die nachösterliche Gnade bereits empfangen. Unser Gethsemane ist schon ins Licht der ewigen Morgenröte getaucht und wir durchleben die Krise unserer Zeit im Zeichen der Auferstehung. Jesus Christus ist auferstanden und mit ihm ist der Welt ein unverlierbares Leben geschenkt. Es ist nun der Auftrag der Kirche, dieses neue Leben in unserer Gegenwart, das heisst nicht zuletzt im Kontext der Corona-Krise, zu inkarnieren, zu konkretisieren und ihm eine für die Welt greifbare Gestalt zu geben.



Oliver Dürr hat Theologie und Geschichte studiert und ist zurzeit Diplomassistent am Lehrstuhl für Dogmatik und Theologie der Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg.

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