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WAS DEM MODERNEN DENKEN FEHLT

Aktualisiert: 9. Feb. 2021



Reduktionismus – was ist das?

Der Begriff „Reduktionismus“ kommt vom lateinischen Verb „reducere“, das „zurückführen“ bedeutet. Wer für einen ontologischen (nicht nur methodischen) „Reduktionismus“ eintritt, der führt die Viefalt der sich zeigenden Phänomene auf eine einzige Grundwirklichkeit zurück, etwa die Materie (Materialismus) oder den Ausschnitt der Wirklichkeit, der naturwissenschaftlich erkennbar ist (Naturalismus). Oft sind Reduktionismen durch im Augenblick besonders erfolgreiche Wissenschaften motiviert (Physikalismus, Biologismus). Immer findet sich in der Rhetorik des Reduktionismus direkt oder indirekt die Formel „x ist nichts anderes als y“ („nothing buttery“). Kein Reduktionismus ist aber selbstverständlich. Jeder stellt eine nicht empirisch begründbare, metaphysische, ontologische Option dar, die begründungspflichtig ist und sich nicht „von selbst“ ergibt. Alternativ ist eine Haltung der „Rettung der Phänomene“, die Einheit und Vielfalt unserer Wirklichkeitserfahrung auch in der ontologischen Analyse gerecht zu werden sucht.


 

Martin Brüske: Zur Dialektik der Reduktion – Kommentar [07.09.2020]


Reduktion ist „sexy“, weil attraktiv und erfolgreich. Als methodischer Zugriff auf die Natur, der eine Fokussierung und Präzisierung derjenigen Fragen erlaubt, die wir an sie stellen, gehört sie zu den Erfolgsgeheimnissen neuzeitlicher Wissenschaft. Allein sie deckt so gesetzmäßige Zusammenhänge auf, die auch technisch verwertbar sind. Holistische Theorien stillen vielleicht das Bedürfnis nach Kontemplation, aber schon Francis Bacon (1561–1626) fand sie in der Gestalt der teleologischen Anschauung der Natur „steril (was für eine Metapher!) wie eine gottgeweihte Jungfrau“ (Bacon, 1623, III,5). Reduktion dagegen verleiht dem technischen Eros Flügel. Sie führt zur Fruchtbarkeit technischen Herrschaftswissens. Ist das falsch? Selbstverständlich nicht – denn kaum jemand würde ernsthaft auf diese Früchte verzichten wollen. Ist es verdächtig? Schon eher! Die Denunziation der Kontemplation, die in Bacons abfälliger Metapher steckt, sollte zu denken geben: Was geschieht mit den Subjekten, ihrer Wahrnehmung der Welt und ihrem ganzen Weltverhältnis, wenn der reduzierende Zugriff auf die Welt zur favorisierten Tugend der Erkenntnishaltung wird, der Mensch darin zum „Herr und Besitzer der Natur“ (Descartes, 1637, VI,2) und das Instrument jenes reduzierende Zugriffs die Folterbank der hochnotpeinlichen Befragung (vgl. Fischer, 1904, 70–81) ist? Und – denken wir an „Faust“ und seine neuzeitliche „Neuübersetzung“ des Johannesprologs („Im Anfang war die Tat“): Wieviel Renaissance-Magier steckt im Erbgut des neuzeitlichen „Forschers“ – ein Vorfahr, dessen er sich heute eher zu schämen pflegt, den er verleugnet und dessen Präsenz im Erbgut doch immer wieder in Erscheinung tritt? Und wieviel Renaissance-Platoniker (übrigens historisch nicht selten identisch mit dem Magier-Experimentator in seiner alchemistischen Küche), der nicht nur das Wesen der Dinge in der Erscheinungswelt sucht, sondern jenseits der Erscheinungswelt das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Jedenfalls bleibt diese Suche nach der wahren Wirklichkeit jenseits der Erscheinungswelt – selbst oder gerade in der Umkehrung eines materialistischen Naturalismus – ein platonisierender Grundzug in so manchen Selbstdeutungen neuzeitlicher Wissenschaft. Gerade in einem nunmehr nicht nur methodischen, sondern ontologischen Reduktionismus, der sagt Wirklichkeit x ist „nichts anderes“ als y.

Tatsächlich enthüllt sich im Weg von einem methodischen zum ontologischen Reduktionismus eine bemerkenswerte Dialektik. (Dieser Abschnitt ist inspiriert von Mutschler, 2002, bes. 181–189) Zunächst führt ja der Weg von einer holistischen Anschauung der Natur zur reduzierten, aber präzisen und experimentell kontrollierbaren Frage an sie, die genau einen genau umgrenzten Zusammenhang ergründen will, zu einer metaphysischen Entlastung und Leichtigkeit. Natürlich verschwindet Metaphysik nicht ganz. Aber jenseits der unabtrennbaren Amalgamierung der aristotelischen Physik mit seiner Metaphysik, gerät die Metaphysik nun in die Vorfragen und Randzonen – und genau dies setzt die neue Physik frei. Zumindest was ihren – mathematisierbaren – Kernbereich angeht. (Nebenbei: Ist das umgekehrt auch so? Wie stark ist aristotelische Ontologie an seine Physik gebunden? Könnte die Emanzipation der neuen Physik nicht auch Einsichten der aristotelischen Metaphysik allererst aus ihrer naturphilosophischen Gefangenschaft freisetzen und zu sich bringen?)

Aber schon hier beginnt die Dialektik: Große Physiker behaupten von sich ganz ausdrücklich, dass sie nicht in Formeln denken und deshalb Bilder und damit unsere Anschauungswelt eine entscheidende Rolle für den Denkprozess spielen... Zunächst aber gilt dennoch: Der Rang eines Physikers hat offenbar nichts mit seinen weltanschaulich-metaphysischen Optionen zu tun. Ganz entgegen der Geschichten, die in den Kreisen des neuen Atheismus so oft erzählt worden sind, dass sie zur unkritisch geglaubten Dogmatik mutiert sind. Newton: Christ mit okkulten Neigungen, Einstein: Spinozist, Heisenberg: Platoniker, Weinberg: Materialist usw. usw. Neuzeitliche Physik, verbunden mit methodischer Reduktion, ist offensichtlich mit unterschiedlichsten weltanschaulich-metaphysischen Optionen vereinbar. Und dies hat vermutlich gerade mit dem methodischen Reduktionismus zu tun.

Klar wird so auch: Methodische Reduktion erzwingt offensichtlich keinesfalls auch einen ontologischen Reduktionismus. Reduktion als Erfolgsgeheimnis neuzeitlicher Wissenschaft erzeugt vielmehr gerade metaphysische Vieldeutigkeit. Das heißt aber gerade auch – und hier nimmt die Dialektik Fahrt auf: Obwohl das „Kerngeschäft“ metaphysisch entlastet ist, verschwinden die metaphysischen Fragen nicht. Denn die Genannten sind esoterische Christen, Spinozisten, Platoniker und Materialisten nicht etwa als bloße Privatleute, sondern mindestens auch als Naturwissenschaftler. Sie geben damit auch dem einen Rahmen, was sie naturwissenschaftlich begreifen. Und das scheint – gerade bei Wissenschaftlern dieses Kalibers – einem tief empfundenen Bedürfnis zu entsprechen. Wenn der Rang dieser Wissenschaftler aber zugleich dafür spricht, dass zwar diese weltanschaulich-metaphysischen Optionen untereinander unvereinbar sind, aber ihre Wahl als Rahmen des Erforschten logisch möglich ist und nicht auf groben Denkfehlern beruht, dann ist offensichtlich, dass keine dieser Deutungen unmittelbar aus dem Erforschten abgeleitet werden kann. Noch einmal also: Das gerade durch methodische Reduktion freigesetzte Material neuzeitlicher Wissenschaft ist metaphysisch vieldeutig. Für das Problem eines ontologischen, weltanschaulichen Reduktionismus bedeutet das: Er ist niemals unmittelbar aus den empirischen Gegebenheiten begründbar, ja, er wird durch sie auch nicht nahegelegt. Er ist selbst eine metaphysische Option, eine ontologische Interpretation der Wirklichkeit, die in keiner Weise selbstverständlich ist und die entsprechend Begründung und Diskussion braucht – jenseits des bloßen Verweises auf die Ergebnisse der Wissenschaft.

Die wirkliche oder vermeintliche Plausibilität der weltanschaulich-metaphysischen Optionen mag deshalb jeweils viele und unterschiedliche Quellen haben. Diskutiert werden aber müssen sie philosophisch. Hier entfaltet sich nun die volle Dialektik unseres Problems: Methodische Reduktion entlastet zunächst von Metaphysik. Sie erzeugt dabei metaphysische Vieldeutigkeit. Aber sie beseitigt nicht das Bedürfnis nach metaphysischer Deutung. So lange dabei das philosophische Niveau der Diskussion nicht gesichert ist, drohen unkritisch gewonnene, vielleicht nur scheinbare Plausibilitäten dieses Bedürfnis zu erfüllen. Meiner Überzeugung nach gehört der heute so ungeheuer populäre und kaum hinterfragte naturalistische Reduktionismus genau hierher. Und genau diesem Ziel soll u.a. die Diskussion hier dienen: unsere verborgenen Metaphysiken und ihre wirklichen oder vermeintlichen Quellen der Plausibilität sichtbar zu machen und einer kritischen philosophischen und theologischen Diskussion zuzuführen.


Zum Autor

Martin Brüske ist promovierter Theologe aus Fribourg (CH). Er ist Lehrbeauftragter für ökumenische Theologie an der Theologischen Fakultät in Fribourg und unterrichtet Ethik am TDS Aarau.


Verwendete Literatur

- Bacon, Francis, De dignitate et augmentis scientiarium. In: The Works of Lord Bacon. Bd. 2. London 1841 [1623].